CICEROS "DE NATURA DEORUM"

Persönliche Begründung des Themas

(6) Wie ich sehe, haben nun meine Bücher - innerhalb kurzer Zeit habe ich ja eine Vielzahl ver- öffentlicht- Anlaß für viel und unterschiedlichen Gesprächsstoff geliefert bei Leuten, die sich teils darüber wunderten, woher dieses Interesse am Philosophieren bei mir plötzlich herrühre, und teils gerne wissen wollten, wovon ich in den strittigen Punkten jeweils überzeugt sei. Auch schien es vielen, so habe ich bemerkt, erstaunlich, dass ausgerechnet die Philosophie meinen Beifall gefunden hat, welche alle Klarheit beseitigt und die Dinge gleichsam in nächtliches Dunkel hüllt, und dass ich mich wider Erwarten zum Fürsprecher einer aufgegebenen und schon längst überwundenen philosophischen Richtung gemacht habe. Ich habe freilich nicht plötzlich mit dem Philosophieren angefangen, habe auch seit frühester Jugend nicht eben wenig Mühe und Sorgfalt auf dieses Studium verwandt, und immer dann, wenn es am wenigsten danach aussah, habe ich mich am intensivsten der Philosophie gewidmet. Dies bezeugen einmal meine Reden, die voll sind von den Maximen von Philosophen, zum anderen meine Freundschaften mit den besten Gelehrten, die stets und zahlreich mein Haus beehrten und schließlich meine Lehrer Diodotos, Philon, Antiochos und Poseidonios- alle bekanntlich Meister ihres Faches.

(7) Und wenn alle Vorschriften der Philosophie auf das praktische Leben zielen, so habe ich doch wohl in meinem öffentlichen und privaten Dasein gleichermaßen all das in die Tat umgesetzt, was mir Vernunft und philosophische Bildung vorschrieben. Sollte aber jemand fragen, welcher Grund uns dazu antrieb, das erst so spät aufzuschreiben, gibt es nichts, was wir so leicht erklären können. Denn als wir aus Mangel an politischen Aufgaben untätig waten und der Zustand des Staat der war, dass er notwendigerweise durch die planende Fürsorge eines einzelnen Mannes regiert werden müsse, glaubte ich zum ersten Mal, unseren Landsleuten, gerade um des Staates willen, die Philosophie näherbringen zu müssen, weil ich es für die Ehre und den Ruhm des Staates wichtig hielt, dass so bedeutsame und herrliche Gedanken auch in der lateinischen Literatur vorliegen

(8) Meine Erkenntnis reut mich umso weniger, als ich deutlich feststellen kann, wieviele Menschen ich nicht nur zum Lernen, sondern auch zum Schreiben angeregt habe. Denn eine Reihe von ihnen war zwar durch griechischen Unterricht gebildet, konnte aber ihre Erkenntnisse nicht an ihre Mitbürger weitergeben, weil sie nicht glaubten, dass das, was sie von den Griechen gelernt hatten, nicht auf Lateinisch gesagt werden könne. Meinem Meinung nach sind wir aber in dieser Beziehung schon so weit fortgeschritten, dass wir in der Breite des Wortschatzes nicht einmal von den Griechen übertroffen werden.

(9) Auch hat seelischer Kummer; hervorgerufen durch einen sehr schweren Schicksalsschlag, mich dazu gebracht, mich mit diesem Thema, zu beschäftigen. Hätte ich dafür irgendwo eine größere Linderung finden können, würde ich nicht gerade zu dieser Form des Trostes Zuflucht genommen haben. Eben diesen Trost konnte ich indes auf keine andere Weise besser schöpfen als dadurch, dass ich mich nicht nur der Lektüre philosophischer Schriften, sondern auch der Bearbeitung der gesamten Philosophie widmete. Alle ihre Teile und alle ihre Zweige lernt man aber dann am leichtesten kennen, wenn man sämtliche Probleme schriftlich behandelt, es gibt nämlich einen so bewundernswerten Zusammenhang und eine so bewundernswerte Verknüpfung der Gedanken, dass einer mit dem anderen verbunden und alle voneinander abhängig und miteinander verkettet scheinen.

(10) Die Leute nun, die wissen wollen, was ich persönlich über jedes einzelne Problem denke, zei- gen eine größere Neugier als nötig; denn bei wissenschaftlichen Untersuchungen soll man nicht so sehr nach einer Autorität, als vielmehr nach der Schlagkraft der Beweisführung fragen. Ja, meistens ist die Autorität der als Lehrer auftretenden Männer für die Lernwilligen sogar schädlich. Denn sie verzichten dann auf ihr eigenes Urteil und halten die Lösung eines von ihnen akzeptierten Lehrers für die Wahrheit. Auch missbillige ich immer das, was wir über die Pythagoreer gehört haben; wenn sie in einer Diskussion etwas behaupteten, sollen sie auf die Frage warum dies so sei, stets nur geantwortet haben "Er selbst hat das gesagt." Dieser "er selbst" war aber Pythagoras. So stark war also der Einfluss der vorgefassten Meinung, dass seine Autorität sogar ohne vernünftige Begründung anerkannt wurde.

(11) Den Leuten nun, die sich darüber wundern, dass ich mich gerade dieser philosophischen Richtung angeschlossen habe, ist wohl in meinen vier "Akademischen Büchern" ausreichend Antwort gegeben. Auch habe ich nicht die Verteidigung aufgegebener und schon überwundener Lehrsätze übernommen, denn wenn Menschen sterben, werden dadurch nicht auch ihre Gedanken hinfällig, sondern brauchen vielleicht nur die Erhellung durch einen anerkannten Interpreten. So behielt in der Philosophie die Methode, gegen alles zu sprechen und nichts definitiv zu entscheiden, die von Sokrates begründet, von Arkesilaos wieder aufgegriffen und von Karneades bestätigt wurde, bis in unsere Zeit ihre Gültigkeit. Heutzutage hat sie, wie ich allerdings sehe, in Griechenland selbst fast keine Anhänger mehr. Dies ist meines Erachtens nicht die Schuld der Akademie, sondern das Ergebnis menschlicher Trägheit. Denn wenn es schon schwierig ist, die einzelnen Lehren zu begreifen, wie viel schwieriger ist es dann, sie alle zu verstehen. Das müssen aber die Leute tun, die sich vorgenommen haben, im Interesse der Wahrheitsfindung sowohl gegen alle Philosophen als auch für alle zu sprechen.

(12) Ich behaupte nun nicht, ich besäße die Fähigkeit, dieser so großen und schweren Aufgabe gerecht zu werden, nehme jedoch für mich in Anspruch, mich darum bemüht zu haben. Es ist nämlich trotz allem nicht so, dass die Anhänger unserer philosophischen Methode keinen Maßstab hätten, an dem sie sich orientieren. Darüber ist andernorts zwar schon eingehender gesprochen worden, doch da manche allzu unbelehrbar und begriffsstutzig sind, müssen sie wohl des öfteren belehrt werden. Ich bin ja nicht jemand, der nichts für wahr hält, sondern betone nur, dass alle Wahrheiten mit gewissen falschen Ideen verbunden sind und beides einander so sehr ähnelt, dass es hier kein verlässliches Entscheidungs- und Zustimmungskriterium gibt. Daraus leitet sich auch folgen- des ab: Vieles ist wahrscheinlich, und obwohl man es nicht völlig erfassen kann, dient es dennoch, weil es eine ziemlich klare und deutliche Vorstellung vermittelt, dem Leben eines Weisen als Richtschnur.