SENECAS "EPISTULAE MORALES"

Epistula IV

(1) Mach weiter, wie du angefangen hast, und eile, wie weit du kannst, damit du umso länger eine fehlerfreie und wohlgeordnete Seele genießen kannst. Freilich genießt du auch, während du dich von Fehlern befreist, auch, während, du deine Seele ordnest: dennoch ist jene Lust eine andere, den man aus der Betrachtung der Seele erkennt, die von jedem Fehler rein und weiß ist.

(2) Jedenfalls hälst du in Erinnerung, welch große Freunde du gespürt hast, als du die Toga des Jungen durch die des Mannes ersetzt hast und auf das Forum geführt wurdest: erwarte Größeres, wenn du das Herz eines Jungen abgelegt hast und die Philosophie dich unter Männer hinüber versetzt. Denn bis jetzt verbleibt nicht das Kindalter, sondern, was doch schwerer ist, das kindische Wesen. Und das ist freilich schlimmer, weil wir das Ansehen der Greise haben, und Fehler von Jungen, und nicht nur die von Jungen, sondern von Kleinkindern: jene haben Angst vor Bagatellen, diese vor Verfälschtem, wir haben Angst vor beidem.

(3) Geh nur weiter: du wirst einige Dinge einsehen, die deswegen weniger gefürchtet werden müssen, weil sie viel Furcht bringen. Kein Übel ist groß, das das äußerste ist. Der Tod kommt zu dir: du musstest ihn fürchten, wenn er bei dir bleiben könnte; notwendigerweise kommt er zu dir oder er geht vorüber.

(4) "Schwierig ist es", sagst du, "den Geist zur Verachtung des Lebens zu führen." Du siehst nicht, wie aus Nichtigkeiten verachtet wird? Der eine hat sich vor der Tür der Freundin mit einem Strick erhängt, der andere sich vom Dach gestürtzt, um den grollenden Herren nicht länger zu hören, ein anderer hat das Schwert in den Leib gestürzt, um nicht von der Flucht zurückgeholt zu werden: Glaubst du nicht, dass dass die Tugend das, was allzu große Angst bewirkt, bewirken wird? Ein sorgenfreies Leben kann keinem zu Teil werden, der allzusehr über dessen Verlängerung nachdenkt, der viele Konsuln unter die großen Güter zählt.

(5) Das bedenke täglich, dass du das Leben mit Gelassenheit zurücklassen kannst, das viele so umklammern und halten, wie Leute, die von reißendem Wasser weggetrieben werden, an Dornen und Gestrüpp. Die meisten wogen zwischen Todesfurcht und Lebensqualen armselig hin und her und wollen nicht leben, können aber auch nicht sterben.

(6) Mach dir deshalb ein angenehmes Leben indem du die Beunruhigung ablegst. Kein Gut hilft dem Habenden, wenn der Geist nicht auf dessen Verlust vorbereitet ist; kein Verlust einer Sache ist leichter als die Dinge, die nicht nicht ersehnt werden, wenn sie verloren sind. Also feure dich gegen das, was auch den Mächtigsten zustoßen kann, an und härte dich ab.

(7) Über den Kopf des Pompeius haben ein Unmündiger und ein Eunuch abgestimmt, über Crassus ein grausamer und unmäßiger Parther: Gaius Caesar befahl, dass Lepidus dem Obersten Tribun den Nacken darbot, er selbst bot ihn dem Charea: das Schicksal hat niemanden dorthin weitergebracht, dass es jenem nicht so viel androhte, wie es versprochen hatte. Vertraue nicht auf diese Ruhe: in nur kurzem Moment wird das Meer aufgewühlt; am selben Tag, wo noch die Schiffe ruhig schaukelten, werden sie von den Wellen verschlungen.

(8) Bedenke, der Räuber und der Feind könnten dir das Messer an die Kehle setzen: mag eine höhere Macht fehlen, hat jeder Sklave dir gegenüber die Entscheidung über Leben und Tod. So sage ich dir: wer auch immer sein Leben verachtet hat, ist Herr über das deinige. Prüfe die Beispiele derer, die durch Hinterhalt im eigenen Haus zu Tode kamen oder durch offene Gewalt oder durch List: du wirst einsehen, dass nicht weniger durch den Zorn von Sklaven als durch den von Königen gestorben sind.
Was bedeutet es dir deshalb, wie mächtig der ist, den du fürchtest, wenn das, wegen dessen du ihn fürchtest, jeder andere auch vermag?

(9) Doch wenn du zufällig in feindliche Hände fällst, wird dich der Sieger zum Tode führen lassen: dorthin natürlich, wohin du sowieso geführt wirst. Wozu täuscht du dich selbst und siehst jetzt das zum ersten Mal ein, was du schon immer erlitten hast? Ich sag´s so: seit deiner Geburt wirst du zum Tode geführt. Das und derartiges muss man sich durch den Kopf gehen lassen, wenn wir jene letzte Stunde friedlich erwarten wollen, dessen Furcht alle anderen davor ruhelos macht.

(10) Aber, um meinen Brief zu beendenn, empfange das, was mir am heutigen Tag gefallen hat; und auch das ist aus fremden Gärten genommen worden. "Großer Reichtum ist nach dem Naturgesetz geordnete Armut." Weißt du aber, welche Grenzen uns jenes Naturgesetz setzt? Nicht zu hungern, nicht zu dürsten, nicht zu frieren. Um den Hunger und den Durst zu vertreiben, ist es nicht notwendig, an erhabenen Schwellen zu sitzen noch ist es notwendig, schweren Hochmut zu ertragen und demütigende Menschlichkeit, noch ist es notwendig, die Meere zu erobern suchen nocht Lagern zu folgen. Einfach ist das, was die Natur verlangt, und auch verfügbar:

(11) Bei Unnützem schwitzt man. Das ist es, was die Toga aufbraucht, was uns zwingt unter dem Zelt älter zu werden, was uns an fremde Küsten treibt: zur Hand ist das, was genug ist. Wem es mit Armut gut geht, ist reich. Leb wohl.

Messy am 17. 9. 1999