VERGILS AENEIS

Prooemium / Junos Zorn (1, 1 - 158)

Ich besinge die Waffen und den Mann, der als erster von der Küste Trojas auf der Flucht vor dem Schicksal nach Italien kam, nämlich an die Lavinischen Gestade; jener wurde zu Lande und zu Wasser von hoher Göttergewalt arg gebeutelt wegen des unversöhnlichen Zorns der Juno, erlitt dazu auch noch viel im Krieg, bis er die Stadt gründete und die Götter nach Latium brachte, woher das Latinische Geschlecht, die Väter Albas und die hohen Mauern Roms entstammen. Muse, rufe mir ins Gedächtnis, wodurch die göttliche Macht verletzt wurde oder worüber die Königin der Götter so große Schmerzen hat, dass sie den Mann, den Rechtschaffenheit auszeichnet, zwingt, so große Schicksalsschläge auszuhalten und so große Mühen auf sich zu nehmen. Haben die Götter so großen Zorn in ihren Herzen?
Es gab eine uralte Stadt, bewohnt von tyrischen Siedlern: Karthago, gegen Italien hin gelegen und von der Tibermündung weit entfernt, reich an Schätzen und überaus rauh in ihrem Kriegseifer. Es ist überliefert, da6 Juno ihrer allein sich angenommen hatte vor allen Ländern, mehr noch als Samos. Hier befanden sich ihre Wehr und hier ihr Wagen. Und diese Stadt zur Herrscherin über die Völker zu machen, wenn es der Lauf der Dinge irgend zulie6, war damals schon der sehnlichste Wunsch der Göttin. Aber sie hatte auch vernommen, aus trojanischem Blut werde ein Geschlecht entstehen, das dereinst die tyrischen Festen niederreißen sollte; ein Volk werde daraus kommen, das, Herr über weite Gebiete und hochmütig durch Kriegsglück, Libyen den Untergang bringen werde. So wollten es die Parzen. Dies fürchtete die Tochter des Saturn, denn sie entsann sich des einstigen Krieges, den sie, allen voran, für ihr geliebtes Argos vor Troja geführt hatte. Noch immer hatte sie, was sie erzürnte, nicht verwunden und nicht die bitteren Kränkungen: Im Innersten ärgerte sie noch das Urteil des Paris und die Ungerechtigkeit, mit der es ihre Schönheit herabsetzte, grollte sie noch gegen sein ganzes Geschlecht und gegen die Ehren, die dem entführten Ganymed zuteil wurden. In diesem Groll jagte sie dahin über Meeresflächen die Troer, die den Danaern und dem erbarmungslosen Achilles entkommen waren, hielt sie von Latium fern, und lange Jahre irrten sie, getrieben vom Schicksal, auf allen Meeren umher. So große Mühen waren notwendig, dass das Volk der Römer werde. Eben setzten sie heiter die Segel und fuhren, während die Küste Siziliens zurückwich, aufs hohe Meer, und mit ehernem Bug wühlten sie sich durch salzigen Schaum. Da spürte Juno wieder die alte Wunde in ihrer Brust und sprach zu sich selbst: "Soll ich von meinem Vorsatz absehen? Soll ich mich geschlagen geben? Kann ich den König der Teukrer nicht von Italien ablenken? Gewiss, das Schicksal verwehrt es mir! Aber hat nicht Pallas die Flotte der Argiver in Brand setzen und sie alle im Meer ertränken können, nur weil Ajax, der Sohn des Oileus, in seinem Wahnwitz sich gegen sie vergangen hatte.' Sie schleuderte den Blitzstrahl Jupiters aus den Wolken. Sie jagte die Schiffe auseinander und wirbelte mit Stürmen das Meer auf. Ihn selbst, Ajax, der aus durchbohrter Brust Flammen atmete, riss sie in einen Strudel und spießte ihn auf eine spitze Klippe. Ich dagegen, die ich als Königin wandle unter den Göttern, Jupiters Schwester und Gemahlin, ich muß dies eine Volk so viele Jahre hindurch bekriegen! Wer wird mich dann noch anbeten und flehend an meinen Altären opfern?" Solche Gedanken wälzte die Göttin flammenden Herzens, und sie begab sich in die Heimat der Wolken, in das Land, das trächtig von heulenden Südwinden ist, nach Aeolien. Hier hält König Aeolus in weitläufiger Hohle die raufenden Winde und die tosenden Unwetter in seiner Gewalt und bezähmt sie durch Fesseln und Kerker. Voll Empörung toben sie in der Runde gegen verschlossene Tore, und laut dröhnt davon das Gebirge. Aeolus sitzt hoch oben in seiner Burg und führt das Zepter, besänftigt sie und zügelt ihr Wüten. Unterließe er dies, rissen sie ungestüm mit sich Länder und Meere und den tiefräumigen Himmel und wirbelten sie durch die Lüfte. Doch der allmächtige Vater sperrte sie, dies befürchtend, in die stockfinsteren Höhlen, türmte Felsen und hohe Berge darüber und gab ihnen einen Herrscher, der genau wusste, wann er sie nach bestimmter Satzung zu bändigen und wann er ihnen die Zügel zu lösen hatte. An ihn nun richtete Juno flehend die Worte: "Aeolus, dir verlieh doch der Vater der Götter und König der Menschen Gewalt, das Meer zu glätten oder es aufzupeitschen im Sturm! Ein Volk, mir feindselig gesinnt, segelt übers Tyrrhenische Meer; Ilium und seine besiegten Penaten nimmt es mit nach Italien. Flöße den Stürmen Gewalt ein, drücke nieder und versenke die Schiffe! Oder jage sie auseinander und streue die Leichen aus über das Meer! Ich besitze zweimal sieben Nymphen von überaus reizender Gestalt, und Deiopea, die am schönsten gewachsene, werde ich dir im Beilager vereinen und für immer zu eigen geben, auf dass sie dir einen so großen Dienst entgelte und alle Zeit mit dir lebe und dich zum Vater schöner Kinder mache." Aeolus erwiderte darauf: "O Königin, du brauchst nur kundzutun, was du wünschst; an mir ist es, deine Befehle auszuführen. Denn du verschaffst mir mein Reich, mein Zepter und Jupiters Gunst. Du gewährst mir, mich niederzulegen bei den Gastmählern der Götter und machst mich zum Gebieter über Gewölk und Gewitter." Als er dies gesagt hatte, schlug er mit umgedrehter Lanze: gegen die Flanke des hohlen Gebirges. Da sammeln wie ein Heerhaufen sich die Winde und brechen, wo die Tore offen stehen, hervor und ergießen sich wirbelnd über die Erde. Sie werfen sich aufs Meer, und der Südost vereint mit dem Süd, dazu der sturmdräuende Südwest, wühlen es auf bis zum Grund und wälzen unabsehbare Wogen auf die Küsten. Sogleich hebt an das Geschrei der Seeleute und das Ächzen der Taue. Wolken raffen plötzlich den Himmel und das Tageslicht aus den Augen der Teukrer: Schwarze Nacht breitet sich über das Meer. Im Himmelsgewölbe kracht der Donner, und von dicht aufeinander folgenden Blitzen flackert der Aether; überallher tritt den Seefahrern drohend nahe der Tod. Alsbald lähmt kaltes Entsetzen Aeneas die Glieder. Er seufzt auf, und beide Hände zu den Sternen erhoben, ruft er mit lauter Stimme: "O ihr dreimal und viermal Glückseligen, denen vergönnt war, im Angesicht unserer Väter, unter den hochragenden Mauern Trojas euer Ende zu finden. O du Tapferster unter den Danaern, Sohn des Tydeus! Warum durfte nicht ich auf dem Schlachtfeld vor Ilium fallen und unter deiner Rechten dies mein Leben aushauchen dort, wo der grimmige Hektor hingestreckt wurde vom Geschoß des Aeakiden, wo der stürmische Sarpedon fiel und wo der Simnis die Schilde so vieler Kämpfer unter seine Wellen riss und nun Helme und die Leichen der Helden dahinwälzt?" Während er so sich beklagt, reißt von Norden heulender Sturm die Segel herum und türmt die Wellen bis zu den Sternen. Die Ruder splittern, dann neigt sich der Bug und bietet den Wellen die Seite, und sogleich bricht jäh aus der Hohe ein Berg von Wasser hernieder. Die einen schwanken auf hoher Flutwelle, vor den anderen legt eine berstende Woge zwischen den Wassern den Meeresboden frei, und die brandenden Wellen wühlen den Sand auf. Drei treibt der Südwind ab und schmettert sie gegen verborgene Klippen, Klippen mitten im Meer, die Italiker nennen sie "Altäre", ein mächtiger Bergrücken dicht unter der Oberfläche des Meeres. Drei treibt der Südostwind aus der offenen See in die L'ntiefen der Syrten, und er rammt sie, ein Anblick des Jammers, in den seichten Grund und umgibt sie mit Sanddämmen. Ein Schiff, es ist das, auf dem die Lykier fuhren und der getreue Orontes, erfasst vor des Aeneas Augen mit Wucht das sich aufbäumende Meer beim Heck, und es reißt den Steuermann los und schleudert ihn über Bord. Das Schiff aber wird von der Flut dreimal auf der Stelle herumgedreht, dann schlingt es ein reißender Strudel hinab. Wenige Schwimmer tauchen auf in der wogenden Weite. Die Waffen der Leute und die Schiffsplanken und die Schätze der Troer schaukeln auf den Wellen. Schon hat das starke Schiff des Ilioneus, das des tapferen Achates, das, welches den Abas, und das, welches den bejahrten Aletes trug, der eisige Sturm überwältigt: Die Gefüge der Flanken treten auseinander, sie lassen alle die feindlichen Sturzseen ein und gehen aus den Fugen. Unterdessen hört Neptun mit tiefer Besorgnis, wie Aas Meer unter großem Getöse in Aufruhr gerät und der Sturm darüber hinbraust und wie vom untersten Grund der Schlamm aufwirbelt. Und das Meer überschauend, hebt er sein friedfertiges Antlitz heraus aus der Welle. Da sieht er auf der Wasserfläche überall auseinandergerissen des Aeneas Flotte treiben, sieh t die Troer schwer bedrängt von den Fluten und dem Verderben des Himmels. Daß alles Junos Niedertracht und Zorn war, konnte ihm, ihrem Bruder, nicht entgehen. Er befiehlt zu sich Eurus und Zephyr und spricht darauf: "So weit hat euch die Vermessenheit eurer Sippschaft geführt. Ohne meine Erlaubnis wagt ihr es schon, ihr Winde, Himmel und Erde durcheinanderzuwerfen und solche Sturmwogen aufzurühren? Ich werde euch...! Aber zuerst tut es not, die aufgewühlte See zu glätten! Beim nächsten Mal sollt ihr mir nicht mit so leichter Buße davonkommen! Macht, daß ihr fortkommt, und sagt euerem König das eine: Nicht ihm hat das Los die Gewalt über die Meere und den grimmigen Dreizack zugesprochen, sondern mir! Ihm unterstehen die ungeheuren Felsen, wo ihr, Eurus, zu Hause seid. Dort in seinem Saal mag Aeolus sich aufspielen und walten über die Winde, wenn ihr Kerker verschlossen ist." So sprach er. Und ehe noch seine Rede zu Ende ist, bringt er das wallende Meer zur Ruhe, verjagt die versammelten Wolken und führt wieder die Sonne hervor. Cymothoe und Triton schieben, vereint sich anstemmend, die Schiffe von scharfkantiger Klippe. Neptun selbst hebt sie mit seinem Dreizack an und bahnt eine Fahrrinne durch die unwegsamen Sandbänke, streicht das Meer glatt und gleitet mit flüchtigen Rädern über die Spitzen der Wellen. Und es war wie so oft, wenn eine Volksmenge in Aufruhr gerät und der Abschaum sich empört. Schon fliegen Brandfackeln und Steine; Wut verschafft sich Waffen. Da aber erblicken sie plötzlich einen Mann, wohl angesehen durch Rechtschaffenheit und Verdienst, schweigen alle und stehen da und spitzen die Ohren. Mit seinen Worten beherrscht er die Gedanken und besänftigt die Gemüter. Ebenso senkte sich überall das Gewoge des Meeres, nachdem der Vater, die Weiten überschauend, seine Pferde aus dem heiteren Himmel gelenkt und, mit seinem Wagen dahineilend, die Zügel gelockert hatte. Erschöpft bemühen sich Aeneas und seine Gefährten, die nächstliegende Küste anzusteuern, und sie werden an Libyens Strand verschlagen.