VERGILS AENEIS

Die Jupiterrede (1, 226 - 296)

Und dann verstummten die Klagen. Jupiter überschaute aus der Höhe des Aethers das von Segeln getupfte Meer und die hingebreiteten Länder, die Küste und die verstreuten Volker. Und im Scheitel des Himmels verweilte er und heftete seinen Blick auf das libysche Reich. Und während so schwere Sorgen seine Brust bewegten, sprach Venus, trauriger noch und mit tränenglänzenden Augen, zu ihm: "O der du mit ewiger Vollmacht waltest über die Geschicke der Menschen und der Götter und mit deinem Blitz Schrecken verbreitest! Womit konnte mein Aeneas sich so sehr gegen dich vergehen? Was konnten die Troer denn anrichten, daß ihnen, nachdem schon so viele den Tod gefunden haben, überall gegen Italien hin der Erdkreis versperrt ist? Hattest du nicht gewißlich verheißen, daß dereinst im Kreislauf der Jahre aus dem wiedererstandenen Blut des Teuerus die Römer hervorgehen als Herrscher, die gebieten sollen mit jeglicher Befugnis über Meere und Länder? Was hat, Vater, dich umgestimmt? Dies war doch, als Troja fiel und so jammervoll unterging, mein Trost, indem ich Unglück aufwog durch Glück! Aber nun verfolgt dasselbe Unheil noch immer die Helden, die schon so vieles durchgestanden haben. Welches Ende gedenkst du, großer Herrscher, ihrem Leid zu setzen? Antenor, der aus der Umzingelung der Achiver entkam, konnte in den Illyrischen Meerbusen segeln und tief im Reich der Liburner in Sicherheit das Wasser des Timavus eindämmen, wo er unter dem dumpfen Donner des Gebirges aus neun Schluchten hervorströmt wie ein Meer, das sich aufbäumt, und sich mit brausender Flut in die Felder ergießt. Dort hat er dennoch die Stadt Patavium gegründet und seine Teukrer angesiedelt, hat dem Volk einen Namen gegeben und Troja aufs neue gerüstet. Jetzt genießt er in Wohlstand den angenehmen Frieden. Wir aber, deine Nachkommen, denen du zugesagt hast, einst würden wir in der Feste des Himmels wohnen, wir verlieren unsere Schiffe! - Was für ein Unrecht! - Preisgegeben sind wir wegen des Grolls der einen, und weit bleiben wir entfernt von den Küsten Italiens. Lohnt man die Ehrfurcht so? Setzt du uns so wieder in die Herrschaft ein?" Mit jenem Lächeln im Antlitz, das Himmel und Unwecter beschwichtigt, küßte der Vater der Menschen und der Götter seine Tochter sanft und antwortete dann: "Ängstige dich nicht, Cytherea, unabänderlich bleibt dir, was ich über deine Schutzbefohlenen beschlossen habe. Die Stadt wirst du erblicken und die Mauern Laviniums, die ich dir versprach, und hinauf zu den Gestirnen wirst du den hochgesinnten Aeneas erheben. An meinen Absichten hat sich nichts geändert. Aber ich will dir, da nun einmal diese Besorgnis dich quält, ausführlicher die Geheimnisse der Zukunft sagen und rolle sie dir auf: Einen schrecklichen Krieg wird er in Italien führen und wilde Völkerschaften bezwingen, den Männern Gesetze geben und Städte gründen, bis der dritte Sommer ihn als König von Latium sieht und dreimal der Winter hinging über die endlich unterworfenen Rutuler. Und sein Sohn Ascanius, der dann den Namen Julus erhalten wird, Ilus vordem, als Iliums Macht noch ungebrochen war, soll, während dreißigmal die Monde ihre weiten Kreise drehen, immer vollkommener werden an Macht, und den Sitz seiner Herrschaft wird er von Lavinium tragen nach Alba Longa und es kraftvoll befestigen. Dort soll dann bei den Nachkommen Hektors volle drei Jahrhunderte lang die Herrschergewalt bleiben, bis die Priesterin Ilia, Tochter des Königshauses, schwanger gehen von Mars und ihm Zwillinge gebären wird. Darauf soll Romulus heiter, angetan mit dem graugelben Fell der Wölfin, die ihn gesäugt hat, das Geschlecht fortsetzen und Mauern errichten, wie Mars sie liebt, und die Römer nach seinem Namen benennen. Ihnen setze ich kein Ende und keine Frist, grenzenlose Macht habe ich ihnen bestimmt. Sogar Juno, die Schroffe, die jetzt noch aus Furcht Meer, Erde und Himmel heimsucht, wird ihren Sinn zum Besseren wandeln und gleich mir die Römer begünstigen, die Gebieter der Welt, das Volk in der Toga. Das ist beschlossen! Eine Epoche wird kommen im Lauf der Zeiten, da zwingt das Haus des Assaracus auch Phthia und das ruhmreiche Mykenae nieder in Botmäßigkeit und herrscht über das besiegte Argos. Aus edlem Geschlecht wird Caesar geboren, Nachfahr der Troer, der das Reich bis an den Ozean und seinen Ruhm zu den Sternen trägt. Julius soll er heißen nach seinem großen Ahnherrn Julus; du wirst ihn, sei dessen sicher, dereinst im Himmel empfangen können, wenn er beladen mit Beute aus dem Orient erscheint. Auch bei seinem Namen wird man einst Eide leisten. Dann nehmen die Kriegswirren ein Ende, und die harten Zeiten werden sich mildern. Fides, die altersgraue, Vesta und Quirinus, vereint mit dem Bruder Remus, sollen Gesetze erlassen. Mit Eisen und Klammern werden die unheilkündenden Pforten des Krieges verriegelt. Drin wird, die Arme rücklings gebunden mit hundert ehernen Ketten, die ruchlose Kriegsfurie, auf ihren Mordwerkzeugen hockend, schauerlich schnauben aus blutigem Rachen."